Die Spielregeln der Bundestagswahl – und warum nur eine Stadt im Wandel fair spielt

 

Sepp Herberger wusste es schon immer: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“. So verhält es sich auch mit politischen Wahlen. Nach jeder Legislaturperiode fängt das Spiel von vorne an. Es wäre schlicht langweilig, wenn die Karten nicht regelmäßig neu gemischt würden.

Damit alle mitspielen können sind die Spielregeln für die Bundestagswahl denkbar einfach, und im Gegensatz zur späteren Sitzvergabe im Parlament schnell erklärt.


1. Die Wahl ist ein Grundrecht für alle Deutschen über 18 Jahre, die im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte sind. Dazu zählen seit fast 100 Jahren auch Frauen: Heben Sie eine zusätzliche Karte vom Stapel ab!


2. Es gibt keine Wahlpflicht in der Bundesrepublik! Die Deutschen haben somit die Wahl ob sie wählen wollen! Eine freie Wahl setzt aber einen freien Willen voraus, dessen Existenz teilweise angezweifelt wird: Eine Runde aussetzen!

 

3. Politisches Verständnis ist nebensächlich. Wahlen werden nach irrationalen Kriterien entschieden. Es geht bei der Wahlwerbung nur darum, dass am wenigsten unsympathische Gesicht auszusuchen, im Wahllokal den richtigen Namen damit zu verknüpfen, und sich nicht von der Umgebung des Wahllokales manipulieren zu lassen, um an der gewünschten Stelle das Kreuzchen zu machen:Nutzen Sie Ihren Joker!

4. Wählen sei ein Kinderspiel, meinen Schweizer Psychologen. Sogar Grundschüler könnten anhand von Politikerportraits den Ausgang einer Wahl voraussagen. Die Aussage, dass für Kinder Politik noch zu kompliziert sei, ist angesichts des politischen Niveaus vieler erwachsener Menschen fadenscheinig. Ein Kinderwahlrecht entspräche nicht nur den UN-Kinderrechtskonventionen, sondern böte ein Gegengewicht zur Tendenz Politik zu Lasten künftiger Generationen zu betreiben. Zwei Felder zurück!

Vielleicht wäre Deutschland auch ein bisschen lustiger und kinderfreundlicher, wenn unsere Repräsentanten sich um die Stimmen ihrer jüngsten Wähler bemühen müssten. Zwei Felder vor!
5. Das fiese aber ist, dass nicht die Wähler die Wahl entscheiden, sondern dasjenige Drittel Bürger, das sich der Wahl entzieht. Allen Spekulationen der renomiertesten Umfrageinstitute zum Trotz unterliegt diese Erkenntnis beharrlich statistischem Irrglauben! Tauschen Sie das Blatt mit einem Mitspieler Ihrer Wahl!

6. Die Empfehlung von Transition Town Witzenhausen e.V.: gehen Sie jetzt erst recht zur Wahl – Ihre Stimme zählt! Falls Sie sich bei der Wahl unsicher sind, nehmen Sie einen Würfel mit in die Kabine und werfen ihn drei mal!
7. Der/die GewinnerIn ist der oder die, der oder die die meisten Stimmen bekommt. Der/die Verlierer/in ist der/die WählerIn, oder der, der/die als erstes keine Karten mehr hat.

Die Spielregeln in der Transition Town Witzenhausen sind bei Weitem komplizierter und sie werden immer wieder umgeschrieben, erweitert und improvisiert. Jedoch macht das Spielen hier mehr Spaß als anderswo, und geschickte Schachzüge gelingen hier nicht nur den Großmeistern.

Laut dem Leitbild ist Transition Town Witzenhausen überparteilich, jedoch keineswegs unpolitisch. Was wir auf Bundesebene durch stumpfe demokratische Werkzeuge nur schwer umsetzen können, versuchen wir auf lokaler Ebene mit frisch gedengeltem Verstand (Anspielung auf den jüngst stattgefundenen Sensenkurs) und Spielwitz zu realisieren.

Die Ohnmacht gegenüber der großen Politik da oben versuchen wir hier in unserer Stadt gemeinsam zu überwinden, wodurch man uns kaum schachmatt setzen kann. Die Glücksformel „Mensch ärgere dich nicht“ ist in Gemeinschaft ebenfalls leichter anzuwenden, vor allem nach einer verlorenen Partie.

Demokratie bedeutet in unserem kleinen Spielekosmos Witzenhausen eine Mischung aus Vertrauen zueinander zu haben, unsere Karten offen zu legen, miteinander auf verschiedensten Ebenen zu kommunizieren, Entscheidungen abzuwägen, abzustimmen, resiliente Netzwerke zu knüpfen und bei game over nicht gleich aufzugeben. Streiten, sauer sein, aussetzen, sich wieder vertragen, einen Schritt zurück und drei nach vorne zu gehen.

Unsere Legislaturperioden sind auf Spielelevel gerafft, um auf die ständigen Ereignisse im Werratal flexibel reagieren zu können. Aber im Gegensatz zur Bundespolitik, die alle vier Jahre wieder von vorne anfangen muss, erklimmen wir allmählich Level für Level. Wenn der Wandel vollzogen ist werden wir viele kleine Puzzleteilchen aneinandergesteckt haben, und das große Ganze mit seiner Botschaft erblicken können. Schließlich lösen wir uns auf höchster Stufe auf und entschwinden ins Paradies – ein Schweif aus Glitzer und Glimmer hinter uns herziehend.

Das zumindest entspräche unserem Wunschdenken, doch bis dahin halten wir’s mit Herrn Herberger und blicken vielen weiteren Spielen nicht mit Unbehagen entgegen.