Solidarität mit den Flüchtlingen in Witzenhausen (und anderswo)

In den letzten Wochen ist eine Randgruppe, die man sonst eher Plastiktüten tragend auf der Kasseler Landstraße- wenn überhaupt- wahrgenommen hat, in den Blickpunkt der Lokalpresse und somit der öffentlichen Wahrnehmung geraten.
 
Die Asylbewerber, die im Industriegebiet am Rande von Witzenhausen in einer Flüchtlingsunterkunft leben.
 
Die Zustände dort wurden auf einer öffentlichen Veranstaltung, die in Zusammenarbeit mit dem AK Asyl stattfand, bemängelt. Zu eng, zu weit abgelegen und ein schlechter allgemeiner Wohnstandard waren Hauptkritikpunkte, die zu einem Streik führten. Weiterhin empfinden es die Flüchtlinge als Zumutung, zweimal die Woche im Kreishaus eine Unterschrift abgeben zu müssen, um in den Genuss geringer monetärer Leistungen zu kommen.
 
 
Statt einer Welle der Solidarität ernteten die meist jungen Männer Spott, Zurückweisung und Häme. Dutzende von Usern ließen sich im Internet und auch in Form von Leserbriefen über die angeblich hohen Ansprüche der Asylbewerber aus. Sie sollen froh sein, dass sie überhaupt hier sein dürfen und wir sie mit unseren Steuergeldern durchfüttern, lautete der  Tenor. 
 
Auch  die Stadtverwaltung selbst zeigte sich über den Protest nicht erfreut. Der Sitzungssaal des Rathauses konnte den Flüchtlingen nicht als Ort ihrer Diskussionsrunde mit den Witzenhäuser Bürgern dienen. Das Rathaus sei ein Verwaltungsgebäude und somit nicht als Ort für politische Kundgebungen, zumal sie sich gegen den Werra Meißner Kreis richten würden, geeignet. 
 
Ins Collmannhaus konnte immerhin ausgewichen werden und an die 70 Menschen kamen, die sich für die Belange der jungen Männer interessierten.
Auch letzte Woche unterstützten der AK Asyl die Männer bei ihren Forderungen, nicht mehr so viele Unterschriften leisten zu müssen und begleitete sie ins Kreishaus, wo auch schon die Polizei wartete.
Heute dann bekamen die Flüchtlinge vor Gericht Recht und müssen ab sofort keine Unterschriften mehr leisten, sondern bekommen Barschecks.
 
 
Es ist gut zu sehen, dass es auch mit einfachen Mitteln möglich ist, Randgruppen eine Stimme zu ermöglichen.
 
Auch wir von Transition Witzenhausen möchten uns solidarisch erklären, denn die Flüchtlingsthematik ist eng verknüpft mit den Problemen, die aus Klimawandel und dem hemmungslosen Ausbeuten von Mensch, Böden und Ressourcen resultiert. 
 
„Unsere“ Asylbewerber – meist junge Männer – haben eine fast unüberwindbare Odyssee hinter sich, um zu uns zu gelangen. Das von Ihnen erhoffte bessere Leben finden sie hier nicht. Im Gegenteil: sie erleiden
die Schmach ihrer Familien, verlieren in der Heimat ihr Gesicht, weil sie das versprochene Geld nicht nach Hause schicken.  Sie erleben große Frustration, psychische Erkrankung und nehmen in vielen Fällen Psychopharmaka ein. Nicht zu vergessen die schlechte Behandlung durch deutsche Behörden und die Abweisung durch weite Teile der Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund ist es auch leichter zu verstehen, warum in den Unterkünften oft eine Mischung aus Aggression und Lethargie herrscht. 20qm große Räume mögen großzügig wirken, selbst wenn man sie mit 4 Mann teilen muss. Wenn diese 4 Männer aber jeweils eine unterschiedliche Sprache sprechen und mit der Aufarbeitung ihrer eigenen Odysee beschäftigt sind, keine Arbeitserlaubnis haben und relativ weit ab vom kulturellen Zentrum Witzenhausens leben (und oft nicht mal über ein Fahrrad verfügen), sieht die Sache schon ganz anders aus. Konflikte und Missverständnisse sind vorprogrammiert.
 
Warum flüchten diese Menschen aus ihren Ländern und was hat das mit uns
und TT -der Stadt im Wandel, zu tun?
Grob zusammengefasst kann man sagen, dass die Auswirkungen unseres westlichen Lebensstils die Lebensbedingungen in anderen Erdteilen dramatisch verschlechtern. Dies ist auf den ersten Blick nicht
ersichtlich, da moderner Neokolonialismus sehr diffuse Erscheinungsbilder liefert. Früher war klar, welcher Nation die Rohstoffe und die Arbeitskraft der Menschen in den jeweiligen Kolonien „gehören“. Heute sind an die Stelle der Nationalmächte andere Institutionen wie G8/G20, der Internationale Währungsfond, die Weltbank und diverse Multinationale Firmen sowie neoliberale Thinktanks getreten.
Die Ausbeutung der Böden, der Ressourcen und der menschlichen Arbeitskraft ist ungebrochen, in vielen Fällen sogar noch schlimmer als zu „klassischen“ Kolonialzeiten.
 
Damals fühlten sich zumindest in einigen Ländern die Kolonialherren noch für das Wohlergehen der Menschen in den Kolonien zuständig und bauten eine öffentliche Versorgung, wie ein öffentliches Nahverkehrsnetz auf. Heutzutage sind die Beziehungen anonymer geworden. Es wird mit Boden spekuliert, den die neokolonialen Damen und Herren nie betreten haben und nie betreten werden. Die Wertschöpfung bleibt nicht im Lande. Die Milliardenumsätze der Firmen kommen nicht den Volkswirtschaften zugute, Steuern werden nicht bezahlt oder von korrupten Regierungen gleich den großen Unternehmen erlassen. Auch die natürlichen Ressourcen werden abgetragen. In Sojaexporten stecken z.B. enorme Mengen an Phosphor, welche für eine funktionierende Landwirtschaft einer der wichtigsten Stoffe ist. Sie sind im Soja gebunden und werden an die Mastanlagen der ganzen Welt exportiert, die Böden und Menschen verarmen, Kleinbauern müssen aufgrund multipler Herausforderungen das Land verlassen.
 
Die Industrienationen stoßen das meiste CO2 und andere Klimaschädliche Gase aus, oder lassen sie ausstoßen, wenn Konsumartikel für uns in Ländern wie Taiwan oder China produziert werden. Das ist natürlich gut für die CO2 Bilanz in Deutschland, ändert aber nichts daran, dass wir mit unserem Lebensstil dazu beitragen, dass es neben wirtschaftlichen, politischen und religiösen Motiven immer öfters der Klimawandel ist, der die Menschen zur Flucht zwingt. Die Grenzen für die Fluchtursachen sind fließend, anerkannt werden hierzulande, wenn überhaupt, fast nur noch politische und religiöse Motive.
 
Insofern ist es das Mindeste, dass wir den Menschen, die zu uns kommen und unsere Hilfe benötigen diese auch anbieten. Integration bedeutet auch, dass wir uns integrieren müssen. Erst wenn wir verstanden haben warum Menschen aus anderen Ländern zu uns flüchten und die globalen Zusammenhänge begreifen können wir in anderen Maßstäben handeln.
 
Mit anderen Worten:
Die neokolonialen Symptome vor unserer Haustür zu lindern ist unerlässlich (indem wir den Flüchtlingen z.B. ein Fahrrad zur Verfügung stellen oder uns solidarisch mit ihren Anliegen zeigen) – allein aus Menschlichkeit. Aber reicht das? Was passiert, wenn wir den Flüchtlingen unseren Lebensstil als den besseren gelehrt haben? Geht es verarmten Menschen im globalen Süden nicht umso schlechter, je mehr wir über unsere Verhältnisse leben?
Kommen dann noch mehr von Ihnen, um sich hier ins Unglück zu stürzen?
 
Die Krankheit hinter dieser Spirale zu erkennen und die richtige Anwendung für deren Bekämpfung zu finden sollte aber das eigentliche Ziel sein, und das fordert eine radikale Veränderung unseres Konsumverhaltens, sowie des Umgangs miteinander.
 
Gerade in Witzenhausen, wo durch die Kolonialschule und die Universität seit vielen Jahrzehnten eine interkulturelle Auseinandersetzung stattfindet, wo wir mit Menschen aus 102 Staaten und vielen Kulturen zusammenleben, sollten wir es nicht nur bei einem „Weekend of Tolerance“ belassen.
 
Toleranz ist gut, heißt  aber auch, dass wir Fremdes nur dulden, und unseren eigenen Wertekanon dadurch nicht unbedingt in Frage stellen. Was wir bräuchten, wäre ein wahrhaftiges Miteinander, ein lebendiges Teilen und Öffnen für den jeweilig anderen, egal, welchen Pass er oder sie in der Tasche hat oder in welcher Kultur er oder sie sozialisiert wurde.
 
Leicht ist das nicht immer, selbst in unserem eigenen Kulturkreis scheint es unüberwindbare Brücken zu geben. Aber wir leben in einer globalisierten Welt, mit all ihren Chancen und Herausforderungen und dürfen uns ihnen jetzt stellen.
 
Heute, am 8. August, gibt es um 10 Uhr eine Mahnwache am Kreishaus mit anschließender Demonstration zum Marktplatz. Kundgebung am Marktplatz um 11 Uhr, Veranstalter: AK Asyl.