Legende einer Unmöglichkeit
Über die Urinale von Transition Town Witzenhausen in Gertenbach bei Witzenhausen am 31.10.2015
Im Mittsommer platzt der Kragen: Beim Spaziergang am Weizenfeldrand wieder in eine Spritzwolke geraten. Atemmaske und Schutzanzug für den Hund leider nicht dabei; stattdessen bläst der Wind mit Wucht. Und es regt sich niemand auf. Doch, auf dem Biohof gleich drüben regt man sich auf. Aber es soll doch gute Nachbarschaft bleiben. Horchen im Dorf ergibt: Schlimme Sache die Ackergifte, Kinder kotzen, Hunde kratzen, aber man will keinen Krach. Seit eh geht das so.
Im Spätsommer flattert die Urinale-Ankündigung ein. Da machen wir endlich was in Witzenhausen! Aber auf dem Dorf, wo es jahrein jahraus aus den Düsen rauscht, das Glyphosat und anderes Mittel, in guter Nachbarschaft.
Leute suchen ergibt: Tolle Sache, das mit der Urinale, aber leider: andere Prioritäten, nicht so’ne eklige Pinkelaktion, Angst vor Beschimpfung, wir wollen keinen Krach.
Schließlich sitzen fünf Waghalsige im Transition Town Büro, die einsehen: Es wird nicht gegen Glyphosat gehen sondern über und es sollen alle an einen Tisch, Bios und Konvis, Ökos und Normalos. Wahrscheinlich ist das unmöglich.
Mittlerweile ist Ende September. Wer referiert? Fachkompetenz tummelt sich hier: Witzenhausen ist Kleinbauernland und seit über 30 Jahren Sitz der Ökologischen Agrarwissenschaften. Aber: Keine Zeit, keinen Krach, gute Nachbarschaft!
Eine Organisatorin wird krank, die nächste wird krank, das Team geht am Stock, als sich zwei Fachleute einfinden: eine Öko-Agrarwissenschaftlerin und ein konventioneller Bauer, gute Nachbarn übrigens, können sich vorstellen, über Wissen zu und Anwendung von Glyphosat zu informieren, uns und das geneigte Publikum, wenn es sich traut – am allerletzten Oktobertermin.
Mit dem evangelischen Gemeindehaus in Gertenbach gibt es nun sogar einen netten Ort, es gibt einen Moderator, eigene Flyer und Info-Plakate, einen Haufen Material aus Jasedow und eine fette Ankündigung auf der Hauptseite der Lokalpresse, die Volxküche wird vegane Suppe aus gespendetem Biogemüse von genanntem Hof kochen, selbstgepresster Soli-Apfelsaft wartet und die Erlaubnis zum Abspielen einer Fernsehdoku landet just am Morgen der Veranstaltung im Postfach.
Kommen denn paar Leute? Schon vor 18 Uhr stellt es sich ein, das total gemischte Publikum, Studenten und Leute von hier, Bauern beider Richtungen und Konsumenten. Gut 30 Leute wohl. Und sie bleiben lange, halten die sehr ausführlichen Referate durch, wollen Fragen stellen, diskutieren und Urinprobensets mitnehmen, Suppe essen, zusammen sitzen, über Landwirtschaft reden und schließlich auch noch, inzwischen ist es längst nach neun, den Film ansehen.
Zwischendurch brennt durchaus mal die Luft, der Krach liegt im Raum. Es geht, zum Beispiel, um die schonendere Art der Bodenbearbeitung (gegen unerwünschtes Kraut): Nichtwendend oder wendend? Ist ein höherer Dieselverbrauch (bio) nicht schlimmer als der moderate Glyphosateinsatz (konventionell)? Jemand wendet ein, dass es im Biolandbau auch Methoden ohne Diesel gibt; man könnte jetzt ins Detail gehen, aber da warten schon andere mit anderen Fragen. So könnte das weitergehen…
Der Erfolg der Witzenhäuser Urinale ist nicht bloß die knapp 80 verteilten Urinprobensets, sondern, dass da tatsächlich ein erstes Gespräch über die Landwirtschaft rings um mit Leuten von hier gelang, aus dem die Beteiligten mit der Anregung zu gemeinsamen Bauernstammtischen rausgehen!
So kann es also weitergehen.